In dieser Woche wäre meine Großmutter 110 Jahre geworden. Wie jedes Jahr um diese Zeit denke ich (intensiver) darüber nach, was sie wohl alles in ihrem Leben erlebt hat und was sie wohl noch erlebt hätte / wir wohl noch gemeinsam hätten erleben können, wenn sie länger gelebt hätte.
Mit Beginn des ersten Weltkrieges ist sie geboren und war demzufolge 4 Jahre, als der zu Ende war.
Konnte ihre Familie von der kurzen Zeit der „goldenen Zwanziger“, also die Zeit des Wirtschaftsaufschwunges, der Blüte von Kunst, Kultur und Wissenschaft, ein klein wenig profitieren?
Ich weiß, dass sie in die Mädchenschule im meinem Heimatort ging. Ich ging etwas mehr als ein halbes Jahrhundert später in die gleiche Schule, bzw. ins gleiche Schulgebäude. 🙂
Zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 war sie 15 Jahre. Ein Alter, in dem man sicherlich auch damals schon die Welt selbst erkundet. Wie war das? Wie stark waren sie davon betroffen? Wie wirkte sich diese Krise im Alltag auf die Familie aus? Gab es auch fröhliche Zeiten, oder nur Existenzangst? (Ich denke, wir können so etwas heute gar nicht wirklich nachvollziehen.)
Ich weiß, dass sie während des zweiten Weltkrieges im Lazarett arbeitete. Im gleichen Zeitraum verlor sie ihren Mann und eines ihrer Kinder im Säuglingsalter. Was für ein Albtraum!
Dann endlich Jahre im Frieden. Sie arbeitete als Verkäuferin und hatte damit ein bescheidenes Einkommen.
Sie lebte in einer kleinen 2-Zimmer-Dachgeschosswohnung. Der kleine Flur der Wohnung war gleichzeitig Durchgang zu dem Dachspeicher der Hausbesitzer. 🤨
Wenn unten auf der Straße ein LKW vorbei fuhr, klapperten in der Vitrine im Wohnzimmer die Gläser. Das fand ich als Kind sehr lustig. 😀 Fließend kaltes Wasser gab es in der Küche und die Toilette war auf der halben Treppe.
Auf dem Hof stand ein riesiger Nussbaum. Seine Äste reichten bis auf wenige Zentimeter an eines der Fenster im Dachgeschoss heran. Als ich da mit meinen kurzen Kinderarmen nach Nüssen geangelt habe, gab es -aus heutiger Sicht völlig berechtigt- mächtigen Ärger, denn der Sturz in die Tiefe hätte mein Leben sehr wahrscheinlich beendet.
Im einem der Sessel im Wohnzimmer saß (m)eine Puppe. Oma dachte wahrscheinlich, dass ich sie zum Spielen nehme, aber die Puppenwelt war nie meine. Sie hat für sie Kleider gestrickt und sie der Jahreszeit entsprechend gekleidet. Ich habe die Puppe heute noch. Bekommen habe ich sie von meiner Uroma. Oma hat sie gepflegt. Ich habe sie noch heute als Andenken.
Ich war gern mit ihr im Garten.
Sie erklärte mir, wie man ein Ameisennest umsiedelt und dass man einen Teil der Bohnen nicht grün erntet, sondern ausreifen lässt, um die Kerne anschießend zu trocknen, damit man Saatgut für das nächste Jahr und einen Wintervorrat Trockenbohnen für die Suppe bekommt. Ich lernte, dass die Stachelbeeren krachsauer sind und die fettesten Spinnen im Efeu sitzen, dass das Wasserfass für mich verboten ist und dass man Regenwürmer im Eimerchen sammeln und beobachten kann, sie aber nicht schmecken . 🤣
Oma hatte eine Schatzkammer!
Das war ein weiß getünchter Kellerverschlag mit einer Lampe an der Deckenmitte und einem fast raumhohen Holzregal, in dem die eingekochten Schätze aus dem Garten lagerten. Ich erinnere mich noch genau wie sie fast feierlich eine Flasche aus dem Regal nahm und sagte: „Ich habe etwas ganz Besonderes.“ Es war eine Flasche Himbeersirup. Früher war man noch bescheiden.
Von ihr habe ich gelernt, dass es an Silvester Heringssalat gibt und dass man die Fische (Salzheringe) 2 bis 3 Tage vor der Verarbeitung wässern muss, weil sie sonst zu salzig sind.
Sie hat mir das Stricken beigebracht. Leider war ich zu klein und weil wir wegen ihrer Krankheit nicht weiter üben konnten, habe ich es wieder vergessen. (Heute kann ich aber stricken.🙂 )
Wohl geprägt durch ihre Biographie, führet sie ein Leben in Bescheidenheit. Ihr täglicher Luxus waren zwei Dinge: gute Butter und echter Bohnenkaffe. Beides war damals sehr teuer, aber weil sie dem Enkele etwas Gutes tun wollte, machte sie extra dick Butter aufs Brot und oben drauf Leberwurst. 😏 Ich mochte diese Packung schon damals nicht und auch heute kommt bei mir keine Butter unter die Wurst. Sie hat´s gut gemeint. 😀
Es begann die Zeit, in der sie immer öfter ins Krankenhaus musste. Ein Mal durfte ich sie im Krankenhaus besuchen. Wage kann ich mich an das Zimmer erinnern. Sie hat nicht mit mir geredet. Ich war irritiert, die Oma so zu sehen.
Mir es keiner gesagt -und ich hatte es noch nicht begriffen-: Ich durfte ausnahmsweise! mit ins Krankenhaus. Auch zu diesem Zeitpunkt hatte mir niemand gesagt, wie es wirklich um ihre Gesundheit stand.
Es war der letzte Tag ihres Lebens. In der Nacht ihrem 61. Geburtstag ist sie gestorben.
Es war ein Schock, den ich in mich rein fraß.
Heute weiß ich, dass sie nach Jahren der Qual und Chemo- und Strahlentherapie den Kampf gegen den Krebs verloren hatte.
Ich hatte keine Gelegenheit mich von ihr zu verabschieden. Auch bei der Beerdigung war ich nicht dabei. So war das wohl damals?
Wahrscheinlich auch deshalb ist für mich das Kapitel „Oma“ bis heute nicht abgeschlossen. Ihr Geburtstag wäre in dieser Woche gewesen und jedes Jahr zünde ich (auch wenn manchmal nur gedanklich) eine Kerze für sie an.
Sehr berührende Erinnerungen, danke dass du sie mit uns teilst!
Meine Großmutter wurde 1915 geboren, lernte Schneiderin und arbeitete während des 2. Weltkriegs in einem Lazarett. Da hat sie meinen Großvater kennengelernt und noch im Krieg geheiratet. Als Kinder verbrachten mein Bruder und ich viele Ferienwochen bei den Großeltern, ich habe das geliebt. Sie hatten einen sehr großen Garten und im Keller ein Holzregal voller Gläser mit Eingemachtem. Was sie selbst nicht im Garten hatten, bekamen sie von Nachbarn, Boskop oder Glaskirschen. Die Großeltern hatten dafür z.B. Birnen und Sauerkirschen. Bevor die eingekocht wurden, mussten sie entsteint werden. Die Oma zog mir eine riesige Gummischürze über, und dann saß ich draußen auf der Hollywoodschaukel und entsteinte Kirschen.
Meine Großmutter hatte auch Krebs. Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört meine Mutter, wie sie weinend aus einer Telefonzelle kommt, nachdem mein Opa ihr von der Diagnose erzählt hat. Aber meine Oma hat überlebt und später im Leben noch einmal. Sie wurde 96 Jahre alt. Sie konnte Gefühle nicht wirklich ausdrücken, das hat sie mit Hilfe von Essen getan. Wenn wir Kinder bei ihr waren, gab es immer nur Lieblingsessen. Und natürlich auch „gute“ Butter 😃.
Mit Puppen konnte ich auch nichts anfangen, die saßen nur rum 😄.
Hallo Petra,
das sind ja eine Menge Gemeinsamkeiten. Schön, dass du so lange etwas von deiner Oma hattest. 96 Jahre sind schon was.
Ich wünsche dir ein schönes Adventswochenende!
Hoffentlich hast du keinen Vorweihnachtsstress.
Liebe Grüße, Sibylle
Vor 40 Jahren starb mein Opa. Einen Tag vor meinem 15. Geburtstag. Schon als Kleinkind hing ich ihm am Rockzipfel. Heute denke ich oft an meine beiden Großeltern. Und nicht nur an sie: in meiner Kindheit war das Straßenbild noch geprägt von Männern mit nur einem Bein. Das Hosenbein der „leeren“ Seite mehrfach umgekrempelt. Prothesen damals wohl eher Last als Hilfe. Eine Patientin, 1916 geboren, erzählte viel aus ihrer Kindheit/ Jugend. Wie gern würde ich all diese Menschen manchmal fragen können! Gute alte Zeit??
Fakt ist: Überfluss schafft Verdruss. So wie echter Mangel auch.
Netzfund: In Krefeld wurde bei Umbauarbeiten an einem Haus eine sog. Zeitkapsel gefunden. Mit einem Bericht aus dem Jahr 1946. Von einer damals 32-jährigen Frau. Berührend!
Für 2025 habe ich nur einen großen Wunsch: FRIEDEN auf Erden
Ich glaube, Frieden wünschen wir uns alle. Leider ist es in den letzten Jahren eher in die andere Richtung gegangen.
Liebe Grüße, Sibylle
Ich erinnere mich auch immer gerne an meine Großmütter (die praktischerweise am gleichen Tag Geburtstag hatten) und die Geschichten, die sie erzählt haben. Als Kind habe ich gerne und viel Zeit bei Großeltern verbracht und bin heute manches Mal erstaunt, was da an Geschichten, Wissen und Erfahrungen hängen geblieben ist. Nur die schmutzigen Witze vom Opa bekomme ich leider nicht mehr zusammen, dafür ist aber das Bild vom hochroten Kopf der Oma noch sehr präsent 😄
Oh ha! Dann gib es bei euch wohl manchmal hoch her. 😀
Großeltern können schon großartig sein.
Liebe Grüße auch an dich!
Sibylle
Hallo, was für ein schöner Artikel und eine wertvolle Erinnerung an Deine Oma! Ich finde, man merkt aus Deinem Bericht, dass sie einen bleibenden Einfluss auf Dich hat. Und dass man früher sich über kleine Dinge mehr freuen konnte. Das ist das, was mich heute oft stört: diese Menge oder der Überfluss an Kleidung, Dingen usw. in den Geschäften (Stichwort: muss man heute gefühlte 100 Joghurtsorten zur Auswahl haben?). Meine eine Oma ist mit Anfang 80 auch an Krebs gestorben und es tut mir heute leid, dass ich die Zeit nicht genutzt habe und ihr mehr Fragen zum Leben, wie es früher war, gestellt habe. Aber damals, als sie starb, war ich noch nicht so weit, dass mich das in der Form interessiert hat, wie heute. Sie hat damals Dinge gemacht, die mich heute interessieren und die ich mir mühsam beibringe (gärtnern, Einkochen, nähen). lg alexandra
Oh, da habe ich wohl einige Erinnerungen geweckt. Hoffentlich sind´s nur gute. 🙂
Tatsächlich nur gute!
Das ist schön!
Guten Morgen
Du hast sehr schöne Erinnerungen an deine Großmutter.
Schade ist es wirklich, das du dich nicht verabschieden konntest und auch nicht bei der Beerdigung warst. Das hätte alles so viel leichter gemacht.
Wenn ich deinen Beitrag so lese, kommt mir meine Pflegemutter in den Sinn.
Ich bin bei Pflegeeltern groß geworden, das waren ganz liebe Leute.
Meine Pflegemutter war Jahrgang 1907
Sie hat mir von Ihrer Kindheit erzählt, von insgesamt 4 Kindern war sie das älteste Mädchen. Mit 14 Jahren hat sie eine Ausbildung als Weißnäherin gemacht und sich später weiter gebildet als Schneiderin. Sie hat zu Hause immer von klein an im Haushalt mit Arbeiten müssen.
Auch bei meinen Pflegeeltern gab es einen Garten und es wurde viel eingekocht. Gerade das ist ähnlich wie bei deiner Großmutter gewesen. Ich erinnere mich gerne an meine Kindheit vor gut 65 Jahren.
Liebe Grüße
Marina
🤗
so eine ähnliche Geschichte habe ich mit meinem liebsten Opa, der mit mir gemalt und gezeichnet hat. Der starb, als ich 5 war. Er war der beste Opa und hat mir trotz meiner jungen Jahre schon damals ganz viele Werte mitgegeben. Auch ich durfte leider nicht Abschied nehmen und auch nicht mit zu seiner Beerdigung. Es ist traumatisch bis heute (bin 59 Jahre). Und ich vermisse ihn. Er war 1900 geboren.